Schlechte Laune wegsingen
Beim »Rudelsingen« bewertet niemand die Qualität des gemeinsamen Gesangs
Von Renate Haller, Redakteurin Evangelische Sonntags-Zeitung
Rappelvolle Säle, verschiedene Lieder, frohe Gesichter: Seit 2011 gibt es in vielen Städten »Rudelsingen«. Vielstimmig und jedes Mal anders.
Rund 200 Menschen stehen in Gruppen zusammen, nippen an ihren Getränken, unterhalten sich. Einige sitzen an Tischen oder stehen an der langen Bar. Als die ersten Klänge von »Musik was my first love« erklingen, ist schlagartig Schluss mit Smalltalk. Der Jagdhofkeller verwandelt sich in einen einzigen großen Chor. »Rudelsingen« in Darmstadt, wie immer ausverkauft.
David Rauterberg schaut gerne in glückliche Gesichter. Häufiger vergönnt ist ihm dieses Vergnügen, seit er 2011 das »Rudelsingen« erfunden hat. Das Konzept ist einfach: Liedtexte sind auf Bildschirme projiziert, damit jede und jeder sie sehen kann, zwei Musiker stimmen an, meist mit Gitarre und Piano, die Gäste singen mit. »Und sehen dabei immer ganz glücklich aus«, sagt Rauterberg. An einem Abend singen sie gemeinsam 20 bis 25 Lieder, die Palette reicht vom Volkslied aus vergangenen Jahrhunderten bis Heavy Metal. Wobei letzteres eher eine Ausnahme ist, das meiste spielt sich im Rock-Pop-Bereich ab, ein Song von Abba und einer von den Beatles sind immer dabei.
Im Jahr 2011 hat Rauterberg zum ersten »Rudelsingen« in Münster eingeladen, nachdem er ein ähnliches Format in Köln erlebt hat unter dem Titel »Frau Höpker bittet zum Gesang«. Zu Rauterbergs erster Veranstaltung kamen 100 Menschen, beim nächsten Mal waren es 200. »Wir haben offene Türen eingerannt, bei den Gästen und den Veranstaltern«, erinnert er sich. Inzwischen sind zehn Teams deutschlandweit in 100 Städten unterwegs. Den Titel »Rudelsingen« hat Rauterberg sich schützen lassen. »Es gibt viele Nachahmer«, sagt er.
In Darmstadt gestalten Jörg Siewert mit Moderation und Gitarre sowie Steffen Walter am Piano den Abend. Als Siewert fragt, wer zum ersten Mal dabei ist, gehen viele Hände in die Höhe, aber die Zahl der Wiederholungstäter überwiegt bei weitem. Das Paar Alexander und Annette Klink steht im dichten Gedränge des Jagdhofkellers und vereint in sich beide Gruppen. Alexander war schon einmal da und hatte Spaß am »ungezwungenen Gesang«. Annette singt auch gerne, allerdings in einem Chor. Sie ist »gespannt«, was sie erwartet.
Ingrid und Marie – ihre Nachnamen wollen sie nicht nennen – waren schon mal da. »Das hat gute Laune gemacht«, erzählt Ingrid. »Und niemand bewertet, wie man singt«, fügt Marie hinzu.
Das stimmt. In schneller Folge erklingen »Aber bitte mit Sahne« von Udo Jürgens, »Es geht mir gut« von Marius Müller-Westernhagen und »Auf der Reeperbahn« von Hans Albers. Die Gäste, überwiegend Frauen in mittleren Jahren, schunkeln, singen mit lauter Stimme – und vielstimmig. Einige wenige scheinen sich nicht so recht zu trauen, stimmen nur in den Refrain ein oder singen gar nicht.
Elke Reichert ist mit vier Freundinnen gekommen. Sie mag »die gute Mischung der Lieder« und dass sie »gleich beim ersten Lied mitgrölen« konnte.
Singen gehört zum Ureigensten der Menschheit
Die bunte Mischung ist Absicht. »Es soll für jeden was dabei sein«, sagt Rauterberg. Nicht jeder kommt in einer guten Stimmung zum »Rudelsingen«. Oft erzählen die Leute ihm aber, dass sie schlechte Laune einfach weggesungen haben, sagt Pfarrerssohn Rauterberg, der früher Projektmanager in der Mobilfunkbranche war und seit 2013 hauptberuflich »Rudelsingen« organisiert. Etwa 100 Veranstaltungen pro Jahr moderiert er selbst.
In der Gemeinschaft zu singen, gehöre zum Ureigensten der Menschheit. Es gehe darum, sich einzulassen auf den Moment. Die Atmosphäre solle so sein, dass man sich fallen lassen kann in den Klang und die Energie der anderen und die eigene Stimme nicht mehr wahrnimmt. Dazu braucht jeder eine andere Musik. Dieses Aufgehen im Ganzen sind »oft flüchtige Momente, die die Menschen wiederholen wollen. Das geht aber nicht«, ist Rauterberg überzeugt. Deshalb wählten die musikalischen Teams für jede Veranstaltung andere Titel aus.
»Ein spannendes und tolles Projekt«, beurteilt Christa Kirschbaum, Landeskirchenmusikdirektorin der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, das Rudelsingen. Menschen kommen im geselligen Rahmen zusammen und singen. Das entspreche der alten evangelischen Veranstaltungsform des offenen Singens. Damit habe die Kirche schon Ende der 1940er Jahre das Gesangbuch eingeführt.
Sie wünsche sich mitunter »ein stärkeres Bewusstsein dafür, dass gemeinsames Singen das kirchenmusikalische Basisformat der Reformation ist«, sagt Kirschbaum. Nachdem Martin Luther die Gemeinde zum Mitträger der Liturgie gemacht habe, nämlich durch Gesang und Gebet, habe die große Liedproduktion eingesetzt. Sie hoffe, dass Kolleginnen und Kollegen aus der Kirchenmusik sich wieder stärker dieser Tradition erinnern und zu vielen offenen Singen einladen.
Keine Konkurrenz zu Chören
In Darmstadt singt inzwischen ein vielstimmiger Chor »Feel« von Robbie Williams. Und stimmt anschließend problemlos die deutschen Schlager »Ich liebte ein Mädchen« von Ingo Insterburg und den Hymnen ähnlichen Hit »Er gehört zu mir« von Marianne Rosenberg an.
Annette Klink, die Chorsängerin, findet Gefallen an der Veranstaltung. »Es ist schön, einfach mal die Lieder durchzusingen«, sagt sie. Im Chor feilt sie mit anderen an einzelnen Passagen, hat Wartezeiten wenn der Bass probt und der Sopran schweigt. Auch sehr schön, aber anders.
»Wir sind keine Konkurrenz zu Chören«, betont denn auch Jörg Siewert, der selber einen Gospel- und Jazzchor in Siegen leitet. »Wir erarbeiten hier nichts. Es geht nicht um Qualität, sondern um die Freude am Singen. Er erzählt von einer Frau, die stottert. Sie sei zu ihm gekommen und habe ihm gesagt, dass das »Rudelsingen« ihr gut tue. Während der Veranstaltung kann sie mitsingen und stottere noch drei Tage lang nicht. »Für sie ist das befreiend«, sagt Siewert, im Hauptberuf Dozent für Bildungswissenschaft und Schulpädagogik an der Uni Siegen.
Harald Berg ist zum ersten Mal dabei und angetan von der Veranstaltung. Für deren Erfolg hat er eine klare These: »Eigentlich wollen alle singen, aber jenseits von Chören fehlt die Möglichkeit dazu.«
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